Legendenbildung
Über Otto Muellers Leben verwoben sich lange Zeit Mythos und Wirklichkeit. Was bleibt davon nach einem Faktencheck übrig?
Auf Reisen nach Kroatien (damals Königreich Jugoslawien), Ungarn, Bulgarien und Rumänien bediente sich Otto ab 1924 wie andere Künstler:innen dort ansässigen Rom:nja als Modell. Das Interesse an den Communitys war vielleicht schon während des Ersten Weltkrieges in Russland geweckt worden.
Seine Schwester Emmy berichtet 20 Jahre nach seinem Tod, Otto hätte bei den Besuchen „wie einer der ihren“ gelebt. Doch auch wenn er jeweils mehrere Wochen vor Ort war, hat er als Reisender in nahegelegenen Hotels gewohnt. Ein Reiseführer übersetzte und vermittelte Kontakte. Auch für die Behauptung, er sei über seine Mutter selbst ein Rom (männliche Form von Roma) gewesen, gibt es keine Anhaltpunkte. Geschürt wurde dieses Gerücht durch Schriften seines Onkels Carl Hauptmann. Dieser Mythos unterstützte lange die romantisierte Lesart seiner Bilder. Nüchtern betrachtet tragen sie jedoch nicht nur eine Fremdbezeichnung im Titel, sondern wiederholen auch Bild-Klischees.
„Rom“ bedeutet Mensch. Daraus hat sich der Sammelbegriff und die Selbstbezeichnung für vielfältigen Gruppen in Europa etabliert: Roma (gegendert Rom:nja). Als Sinti (Sinti:zze) bezeichnen sich die Angehörigen einer Teilgruppe, die seit dem 15. Jahrhundert im deutschen Sprachraum zu Hause sind. Vorurteile gegen Sinti:zze und Rom:nja sind bis heute weit verbreitet – romantisierende genauso wie abwertende Stereotype.
„Otto Mueller, dessen Bilder wir sehr schätzen und gleichzeitig immer wieder auch kontrovers diskutieren, hat immer wieder ‚Z***‘ gemalt, also die Konstruktion einer Gestalt, die für ihn ein möglicherweise rebellisches Ideal dargestellt hat […] – aber eben nicht […] die tatsächlich lebenden Menschen.“ (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma)
Wir können vermuten, dass Otto in das Leben der Rom:nja ideelle Werte interpretierte, die zu seiner Selbstwahrnehmung als Künstler passten. Die von ihm in Szene gesetzte Armut ist schwierig, da sie einerseits ein Stereotyp festigt und auf der anderen Seite die echte Not verklärt.
Nach Skizzen und Fotos fertigte er übrigens im Atelier rund 80 Gemälde und Grafiken von Rom:nja an. Dokumente – Fotos oder Notizen – sind nicht erhalten. Wir wissen deshalb zum Beispiel nicht, wer das sitzende Mädchen ist.
Bald nach seinem Tod wurden seine Bilder von den Nationalsozialisten zur „Entartete Kunst“ erklärt. Insgesamt beschlagnahmten die Nationalsozialisten über 400 Werke von Otto Mueller. So ist sein Gemälde „Sitzendes Zigeunermädchen“ in unmittelbarer Nähe des Rednerpults bei der Eröffnung der Ausstellung „Entartete Kunst" am 19. Juli 1937 auf Fotos zu sehen.
Warum sind die Namen der Modelle so wichtig?
Da wir die dargestellten Rom:nja bei Otto nicht kennen, macht er sie in seiner Kunst zu Objekten. Anonymität führt oft zu vereinfachten und exotisierten Interpretationen. Namen ermöglichen uns, Verbindungen herzustellen, Familiengeschichten zu rekonstruieren und die individuellen Beiträge zur Kunstgeschichte zu würdigen.
Małgorzata Mirga-Tas
Die Aktivistin und Künstlerin Luna De Rosa (*1991) untersucht die Diskriminierungsgeschichte von Rom:nja. Durch den Einsatz verschiedener Medien, von der Performance über die Malerei bis hin zur Installation, thematisiert sie die Dringlichkeit, falsche Vorstellungen und Stereotypen zu bekämpfen Sie visualisiert mit Werken wie „Antigypsism“ komplexe religiöse und ethnische Spannungen sowie anhaltende Konflikte und gesellschaftliche Probleme.
Luna hebt die kulturelle Vielfalt von Rom:nja hervor. Sie konzentriert sich insbesondere auf die Themen Rom:nja-Identität und Weiblichkeit und schafft dichte Bilder, die fast metaphorisch die Reibung und die Widersprüchlichkeit ihres Daseins als Künstlerin, Romni und Frau nachzeichnen.